Biographie



Spirituelles Leben

Innere Verwandlung

Im autobiografischen Teil seines Werks – etwa in Kapitel 5 aus dem Schahname-ye Haqiqat [Buch der Könige der Wahrheit], in Forqan ol-Achbar [Beweis der Tradition] und einigen anderen Werken – erzählt Hadj Nemat von einer inneren Erfahrung, die ihn tiefgreifend veränderte und seinem Leben eine neue Bedeutung gab. In den Beschreibungen zu seiner spirituellen Erleuchtung spricht er davon, dass er im Alter von 29 Jahren, während er schwer erkrankt war und von den Umstehenden bereits für tot gehalten wurde, eine spirituelle Vision hatte, in der er das einzigartige und konkrete Reich der spirituellen Welt vernahm. Diese außergewöhnliche Erfahrung ermöglichte ihm den Zugang zu einer besonderen spirituellen Dimension, in deren Verlauf ihm viele Dinge bewusst wurden, unter anderem eine bestimmte Methode der spirituellen Rechnungslegung sowie seine eigene spirituelle Mission. Als er sich wieder erholt und ins Leben zurückgekehrt war, fand er sich durch und durch erfüllt vom göttlichen Licht.

Nach dieser spirituellen Erfahrung beschloss er, seiner früheren Existenz und seinem Regierungsposten den Rücken zu kehren, den Verwaltungsposten bei seinem Onkel aufzugeben und sich stattdessen auf ein Leben in Abgeschiedenheit einzulassen. Mit einigen ausgewählten und besonders ergebenen Derwischen zog er in einen kleinen Teil seines Hauses in Dscheyhunabad um, das aus einem Innenhof und einigen umliegenden kleineren Räumen bestand („Haus der Askese“). Von da an widmete er sich vollkommen seiner Mission. Die einfache und bescheidene Lebensform von Derwischen bestand aus 40-tägigen Askeseperioden, die von Fasten, individuellen Gebeten, zuweilen auch kollektiven Gebeten, spirituellem Unterricht, karitativen Aufgaben und natürlich Forschung und Autorentätigkeit geprägt waren. Im Buch der Könige der Wahrheit beschreibt Hadj Nemat diese tiefgreifende Transformation wie folgt:

Nur dank Gottes Kraft und Macht
bin ich aus der Unwissenheit erwacht

Sah mich von oben als Himmlischer
ganz aus Licht, kein Irdischer mehr

Mein Wesen, einem Kleinod gleich, rein von Anbeginn
verhüllt, damit niemand wusste, wer ich bin

Sein Wille war, dass ich wieder wach ward
und Kleinod glänzte in vollem Strahl

Vogelgleich schnellte ich empor, ließ hinter mir Welt und Zeit,
Tauchte ein in den ewigen Fluss der Seligkeit

Da ihm wohl bewusst war, wie schwerwiegend und folgenreich seine Entscheidung sein würde, und da er diese neue Lebensform seiner Ehefrau nicht aufzwingen wollte, schlug er ihr vor, sie freizugeben, falls sie es wünschte. Obwohl sie materielle Annehmlichkeiten und das bequeme Leben zu schätzen wusste, an das sie von Kindheit an gewöhnt war, zog sie es vor, an der Seite ihres Ehemanns zu bleiben, die täglichen Herausforderungen eines asketischen Lebens anzunehmen und gemeinsam mit ihrem Mann durch Dick und Dünn zu gehen.

Im Jahre 1902 begab sich Hadj Nemat barfuß und fastend zum Mausoleum von Soltan Sahak, dem charismatischen Gründer des Ordens der Ahl-e Haqq. Sein Grab liegt in der Region Oraman (kurdisch Hawraman) in Kurdistan, einer damals schwer zugänglichen und unsicheren Gebirgsgegend. Dazu sei im übrigen angemerkt, dass Soltan Sahak als eine theophanische Manifestation Gottes verehrt wurde – zu ihm zu pilgern war in der Tradition der Ahl-e Haqq vergleichbar mit einer Pilgerreise nach Mekka. Wer sie unternommen hatte, wurde folglich „Hadj“ (wörtlich „der die Pilgerfahrt nach Mekka unternommen hat“) genannt. So erhielt Hadj Nemat, der bis zu diesem Tage als Mirza Nemat bekannt war, diesen Titel, den er von da an in seinem Namen führte. Er verbrachte drei aufeinanderfolgende 40-Tage-Askeseperioden am Grab von Soltan Sahak, und als er zurückkehrte, kleidete er sich in das weiße Gewand der Derwische und hörte auf, sich Haare und Bart zu schneiden – als Zeichen eines Lebens in Abgeschiedenheit, ganz der Spiritualität geweiht.

Eine charismatische Persönlichkeit

Sehr früh bildete sich um ihn ein Kreis von Vertrauten oder „Derwischen“, wie der damals übliche Begriff lautete. Neben seiner Ehefrau und seinem Sohn waren es zu Beginn zwölf Derwische, die seiner zurückgezogenen asketischen Lebensweise und seinen Lehren folgten. Nachdem er zwei Jahre lang auf diese Weise Versammlungen abgehalten hatte, war – konträr zu seinem eigenen Wunsch – sein Ruf als spirituell Erleuchteter über die Grenzen seines Geburtsorts und Kurdistans hinaus, bis in andere Regionen des Iran und sogar über die Landesgrenzen hinweg bekannt. Zahlreiche Menschen von nah und fern kamen nach Dscheyhunabad, um ihn zu sehen und spirituelle Erlösung für ihre Leiden oder Heilung für ihre physischen Gebrechen zu erhalten – was ihm schließlich den Spitznamen „Scheich Attar“ („weiser Apotheker oder Heiler“) einbrachte. Um Ruhm und die damit verbundenen unerwünschten Folgen zu vermeiden, bemühte sich Hadj Nemat darum, seine Überzeugungen vor anderen zu verbergen – jene aber, die auf der Suche nach der Wahrheit waren, erkannten nach und nach sein wahres Ich und nahmen Zuflucht bei ihm.

Innerhalb weniger Jahre war die Anzahl seiner Derwische auf 2000 Personen angewachsen, darunter 500 Frauen, was ein bis dato unbekanntes Phänomen war. Dieser Punkt muss besonders hervorgehoben werden, denn die Mehrheit der mystischen Wege war vorwiegend Männern vorbehalten und es war eher ungewöhnlich, dass Frauen offiziell Teil dieser mystischen Bruderschaften werden konnten (was die Etymologie des Wortes „Bruderschaft“ ja bereits aussagt).

Während dieser Zeit wurde für die Derwische ein Gebetshaus („Chaneqah“) errichtet, das für Gebetsversammlungen gedacht war, aber auch als vorübergehender Aufenthalts- oder Schlafraum für Pilger diente. So bildete sich um Hadj Nemat eine Gruppe von Personen, die ihm folgten und die sich ganz dem Gebet und der Askese hingaben – wobei das, was alles zusammenhielt, der Glaube an die charismatische Persönlichkeit ihres Führers war.

Die Zeugenberichte aus dieser Zeit und insbesondere die detailreichen Schilderungen seines Sohns Ostad Elahi verdeutlichen, dass zu den bemerkenswerten Eigenschaften der Persönlichkeit Hadj Nemats gehörte, wie er der Wahrheit der Religion treu blieb und wie er sich kompromisslos an ethische Prinzipien und moralische Feinheiten hielt, insbesondere was ihn selbst, seine Familie und seine Anhänger betraf. Zu den ethischen Tugenden, die er in seinen Lehren betonte und an die er seine Gefährten stets gemahnte, gehörten Aufrichtigkeit, Reinheit und Gewissheit im Glauben. In seinen Arbeiten hebt er wiederholt hervor, wie wichtig es sei, diese Tugenden zu entwickeln, und er zeigt wenig Toleranz, wenn diese fehlen.

Aufrichtigkeit löst Schwierigkeiten aller Art
Aufrichtigkeit den Schlüssel zum ewigen Schatz verwahrt

Aufrichtigkeit heilt alle Leiden und Wehen
Aufrichtigkeit lässt Kummer vergehen

Aufrichtigkeit schützt vor dem Bösen, vor der Niedertracht
Aufrichtigkeit bereinigt Schuld und Missetat

Wem es aber mangelt an Aufrichtigkeit
Beugte er sich auch vor Gott eine Ewigkeit

Gäbe er Almosen ohne Rast
Fastete er auch ohne Unterlass

Betete er vom Morgen bis spät in die Nacht
Und gäb‘ sich zufrieden mit seiner Schicksalslast

Wäre er fromm und rein, das Ziel seines Strebens
ohne Aufrichtigkeit wär’s völlig vergebens

Ein anderer vorspringender Wesenszug seiner Persönlichkeit war das regelmäßige Praktizieren karitativer Taten – eine der Grundsäulen seiner Lehren. Wenn Hungersnöte in der Region auftraten, verteilte er regelmäßig Nahrungsmittel an die Armen und kümmerte sich um die Bedürfnisse und Leiden der Mittellosen. Wie viele wahre Mystiker lag ihm auch das Wohlergehen von Tieren und anderen Geschöpfen am Herzen. Man sagt, dass er während einer Hungersnot befahl, ein Schaf zu schlachten und es für die hungernden Tiere auf dem Feld zu lassen.

Wie er es in seinem Letzten Willen und Testament vorausgesagt hatte, verließ Hadj Nemat diese Welt um die Mittagszeit des 28. Februar 1920, im Alter von 49 Jahren. Er wurde in Dscheyhunabad beigelegt, beim Grab von Yar Ali, seinem jüngsten Sohn.

Nur drei seiner sieben Kinder sowie seine Frau Sakineh Chanom überlebten Hadj Nemat: Ostad Elahi, der 24 Jahre alt war, Malak Jan (zu der Zeit 13 Jahre) und Maryam (10 Jahre). Nachdem Hadj Nemat die Welt verlassen hatte, ließen seine Frau und seine Kinder nicht zu, dass das spirituelle Band, das er mit Gott errichtet hatte, durchtrennt würde, und seine zwei älteren Kinder werden später nachhaltige Wirkungen auf ihr jeweiliges spirituelles Umfeld haben.