Zur Person



Spirituelle Persönlichkeit

Spirituelle Lehren

Das Denken von Hadj Nemat bezieht sich im Kern auf die authentischen Doktrinen der Ahl-e Haqq und der Blick, den er auf diese Tradition wirft, bzw. die Art und Weise, wie er sie interpretiert, eröffnet dem Leser spirituell gesehen völlig neue Horizonte. Für Hadj Nemat ist der spirituelle Pfad die Suche nach der Wahrheit (Haqq) – in aller Bedeutungsvielfalt dieses Begriffs, der zugleich Gott, Rechtschaffenheit, Integrität, Gerechtigkeit und Wirklichkeit beinhaltet. Der eigentliche Zweck von Ritualen, Gebeten, Askese und Wohltätigkeit und allgemein gesehen aller religiösen und moralischen Praktiken ist, an der letzten Etappe, der Etappe der Wahrheit, anzukommen. Denn auf dieser Stufe erkennt man die eigentliche Wirklichkeit aller Dinge, man ist berauscht vom Prozess zunehmender Selbsterkenntnis und erfreut sich daran, Gott und sein Licht wahrzunehmen. Leben, Denken und Werk von Hadj Nemat ranken sich allesamt um diese höchste Idee, dass die Wahrheit geschaut, wahrgenommen, praktiziert und erlangt werden könne.

Rückzug von der Welt

Von dem Tag an, da Hadj Nemat seine spirituelle Transformation durchlaufen hatte und ihm sein spiritueller Rang, seine Mission der Führung und sein Auftrag, von der Wahrheit Zeugnis abzulegen, offenbart wurden, weihte er sein gesamtes Leben dieser Aufgabe. In der Folge entzog er sich allen irdischen Anhaftungen, um ein Leben zu führen, das noch in den kleinsten Verrichtungen auf das spirituelle Ziel gerichtet war. Es lässt sich beobachten, dass er diesen Ansatz auch auf seine Derwische übertrug. Stets erteilte er ihnen den Rat, auf materielle Güter und Genüsse zu verzichten, um sich ganz der Spiritualität zuzuwenden, materielle Wünsche und Anhaftungen in sich zum Schweigen zu bringen, um sich ganz der Seele widmen zu können. Sein eigenes Leben war von 40-tägigen Fastenperioden bestimmt, von individuellem (zuweilen auch kollektivem) Gebet und Kontemplation, spirituellem Unterricht, Pilgerfahrten und regelmäßigen Akten der Wohltätigkeit. Diese Art zu leben entspricht übrigens den vier Grundprinzipien der Ahl-e-Haqq-Gemeinschaft: Reinheit, Rechtschaffenheit, Demut und Wohltätigkeit. Diese Prinzipien müssen sowohl im materiellen als auch im spirituellen Sinne verstanden werden – in der Interaktion des Einzelnen mit der Welt und den Anderen und in der Interaktion zwischen Körper und Seele.

Ein unerschütterlicher Glaube

Die Suche nach göttlichen Attributen in all ihren Dimensionen stellt eine weitere Grundachse in Leben und Werk von Hadj Nemat dar. Seinem Sohn Ostad Elahi zufolge war sein starker Glaube eines der hervorstechendsten Merkmale seiner Persönlichkeit:

Sogar in materiellen Angelegenheiten war mein Vater ein Genie. Ohne jemals einen Meister gehabt zu haben, hatte er eine unglaubliche spirituelle Kraft und Ergebenheit... Aber über allem stand sein Glaube – und welch ein Glaube! Gott hat ihm alles zugestanden, was er von Ihm erbat. Und welche Willenskraft er besaß! Welches Vertrauen in Gott!“

Von seiner Person ging ein aufrichtiger und unerschütterlicher Glaube an die Theophanie aus. Wie alle großen Mystiker hat er sich nicht an jene unerreichbare Abstraktion des Göttlichen gewandt, an den unsichtbaren und unaussprechlichen Gott, sondern an das ‚Antlitz’, das Ihn in seiner Zeitepoche repräsentierte. Hadj Nemat sah die Quelle seiner spirituellen Mission in einer Theophanie verankert, die als „Herr des Zeitalters“ (Saheb-e Zaman) bezeichnet wurde.

In der Ausübung seiner spirituellen Aufgaben, vor allem in seinen Gebeten und Askeseübungen, ging es Hadj Nemat nicht allein um spirituelle Reinigung und Fortschritt, sondern auch um das Ende der Zeit – insofern, als ihm die Aufgabe übertragen worden war, das spirituelle Fundament für das Erscheinen der göttlichen Manifestation, das Erscheinen des Erlösers der Menschheit, zu legen. In seinen Augen würde mit dieser Manifestation das Ende von Finsternis und Unterdrückung einhergehen sowie der Beginn einer Ära von Gleichheit und Gerechtigkeit eingeläutet werden. Er war daher zutiefst davon überzeugt, dass spirituelle Bemühungen essentiell notwendig sind, um die Ankunft des Messias und das Reich des reinen Glaubens vorzubereiten. Dennoch muss gesagt werden, dass die Idee eines Herrn des Zeitalters bei Hadj Nemat einzig und allein in ihrer spirituellen Dimension von Bedeutung ist und niemals auf politische oder gesellschaftliche Aspekte abhebt. Überdies ist anzumerken, dass es dabei nicht unbedingt um die physische Manifestation dieses ‚Herrn des Zeitalters‘ geht; der spirituell Suchende sollte vielmehr stets nach jener Essenz suchen, die für die bedeutsamen und fundamentalen spirituellen Veränderungen ursächlich verantwortlich ist.

Wohltätigkeit als Lebenshaltung

Hadj Nemat entstammt aus einem Geschlecht und einer Tradition, in denen die Praxis der Wohltätigkeit einen zentralen Platz innehielt. Aus dieser Perspektive heraus kommt die Seele in diese Welt, um sich für ihr Leben im Jenseits vorzubereiten, und karitative Taten auf der Erde bilden das Guthaben, das die Seele dorthin mitnehmen kann. Gute Taten, die aus dem Glauben an das Göttliche motiviert sind, stellen den eigentlichen Reichtum der Seele dar, der bleibend ist und ihr endgültiges Schicksal bestimmt. Die Transformation in Hadj Nemats Wahrnehmung infolge seiner Erleuchtung brachte ihn dazu, sein bequemes materielles Leben aufzugeben und den Großteil seines Einkommens aus seinen Ländereien den Armen und Bedürftigen zu spenden. In Zeiten des Überflusses wie in Zeiten der Bedrängnis kamen zahlreiche Menschen zu ihm, die in Not waren. Abgesehen von den Zeiten, die er der persönlichen Kontemplation widmete, war er stets für andere da, um ihnen in ihren Nöten beizustehen und ihr Leid zu lindern, unabhängig davon, ob sie in körperlicher oder seelischer Hinsicht Rettung suchten. Er glaubte daran, dass es notwendig sei, allen Menschen in allen erdenklichen Formen Gutes zu tun: Er hat sich stets dafür eingesetzt, die Bedürftigen zu empfangen; denen zu helfen, die sich helfen lassen möchten; für das Heil der Menschheit zu beten; die Wahrheit zu bezeugen und diejenigen zu führen, die nach dieser Wahrheit suchen. Toleranz in religiösen Angelegenheiten sah er demzufolge als eine selbstverständliche Pflicht an.

Aufeinanderfolgende Leben

In der Tradition der Ahl-e Haqq ist die Theorie der aufeinanderfolgenden Leben einer der zentralen Glaubensgrundsätze. Dennoch sollte die Theorie der aufeinanderfolgenden Leben nicht mit der der Seelenwanderung verwechselt werden. Die beiden Ansätze unterscheiden sich stark voneinander: Besonders hervorzuheben ist 1), dass im Rahmen des Konzepts der aufeinanderfolgenden Leben die Seele verschiedene Leben durchläuft, um zu wachsen und sich zu entwickeln, und dass die Anzahl dieser Leben befristet ist; und 2), dass der Zyklus der aufeinanderfolgenden Leben aufsteigend ist, also vom Mineral zur Pflanze, von der Pflanze zum Tier und schließlich vom Tier zum Tier-Menschen – ohne die Möglichkeit eines Zurückfallens auf eine niedrigere Stufe.

In seinen Schriften betont Hadj Nemat vor allem die Wiederkehr der spirituellen Essenzen zu verschiedenen Epochen. Das bedeutet, dass die Essenz jedes der sieben Erzengel sich in Form von Heiligen und Propheten in aufeinanderfolgenden Epochen manifestiert – so dass die Erde niemals ohne göttliche Führung ist. Diese zyklische Wiederkehr der Essenzen zieht für Hadj Nemat die logische Schlussfolgerung nach sich, dass die Religionen nicht nur allesamt ein und demselben Gott entstammen, sondern auch durch ein und dieselben spirituellen Wesenheiten, wenngleich in verschiedenen Formen, offenbart wurden.